Freitag, 16. Februar 2007

Die beiden Brüder

In einem Dorf in Frankreich lebten einmal zwei Brüder, Joel und Henri, die einer wie der andere unverheiratet geblieben waren. Joel war sehr fromm, der andere etwas weniger, aber dennoch verstanden sie sich prächtig, ja, liebten einander und halfen sich gegenseitig in Scheune und Stall. Nun war es so, daß Henri die Äcker mit den schlechteren Böden geerbt und auch nicht immer eine glückliche Hand hatte bei der Bewirtschaftung. Aber im großen und ganzen ging es beiden gut, und sie hatten ihr Auskommen.

Der fromme Joel, der Wohlhabendere der Brüder, konnte es sich leisten, einmal im Jahr für drei Wochen nach Lourdes zur Grotte von Massabielle zu fahren, denn er hatte die Mittel, um die Reisekosten zu bezahlen, und genügend Knechte, die für ihn während seiner Abwesenheit all seine Arbeiten verrichteten. Der andere Bruder aber hatte keine Knechte. So blieb er zu Haus, freute sich für Joel, daß dieser fahren konnte, aber er war schon ein wenig traurig darüber, nicht mit seinem Bruder verreisen zu können. Zwar war ihm das Reiseziel nicht so wichtig wie dem frommen Bruder, aber er würde es sicherlich genießen, einmal im Jahr mit Joel über etwas anderes zu reden als über Wetter und Fruchtstände, über Fleisch- und Getreidepreise.

Damit sein Verzicht ihn nicht allzusehr anging, tröstete sich der Daheimgebliebene Jahr für Jahr mit dem Gedanken, daß Reisen gefährlich und er überdies eher seßsafter sei als sein Bruder. Und so fiel ihm der Verzicht leichter, und fast glaubte er daran, daß er gar nicht so sehr gern reise. Auch war er immer ein wenig in Sorge um den andern, wenn dieser unterwegs war. Man hörte so einiges.

Die beiden Brüder sprachen nicht viel darüber, und so ging das einige Jahre.

Nun hatte der Benachteiligte der beiden wider Erwarten eine besonders gute Ernte eingefahren, und auch die Getreidepreise waren höher als erwartet. So konnte er hoffen, im nächsten Jahr werde es doch einmal reichen für die Wallfahrt. Er teilte seinem Bruder mit, wie es stehe und er bereit und in der Lage sei, im nächsten Frühsommer zu reisen, obgleich es etwas knapp werde wegen der notwendigen Aufwendungen für die Aushilfsknechte, aber er sei guter Dinge, das zu schaffen. Er sagte das mit vor Vergnügen blitzenden Augen.

Da freute sich auch der andere: "Dann ist es also abgemacht: Das nächste Mal fahren wir gemeinsam, Bruderherz", sagte Joel freudestrahlend und umarmte seinen Bruder kräftig, was im Gegensatz zu Henri sonst gar nicht in seiner Art lag.


In diesem Jahr gab es einen milden Winter, und zu Weihnachten zeigte sich der Fromme von seiner spendablen Seite und lud seinen Bruder zum Weihnachtsmarkt ins nächste Städtchen ein. Solch ein frohes Gezeche hatte es schon lange nicht mehr gegeben.

Nach Neujahr dann das Unglück: Dem Reicheren der beiden brannte die Scheune ab, und er und seine Knechte hatten Tag und Nacht alle Hände voll zu tun. Die Versicherung sträubte sich nach Kräften, und fürs erste sah der Bauer keinen Franc. Der Bruder aber konnte nicht helfen, so gern er es auch getan hätte, hatte er doch mit seinem eigenen genug zu tun und schaffte kaum sein Tagwerk.

"Mit der gemeinsamen Reise wird es dieses Jahr wohl nichts werden", sagte der eine, und der andere nickte nur zustimmend. "Aber im nächsten Jahr bestimmt, das versprech ich dir", sagte Joel und machte sich wieder an seine Arbeit, denn er hatte wirklich über die Maßen viel zu tun. Obgleich Henri von Joel in der Folge immer wieder hörte "Keine Zeit, keine Zeit" und sah, wie erschöpft dieser war, konnte doch nicht übersehen werden, daß die Dinge sich langsam entspannten. Dennoch ließ Henri seinen Bruder in Ruhe und sprach nicht mehr von der gemeinsamen Reise. Joel würde sich schon melden, wenn er bereit dafür war. So vergingen Tage und Monate, und als Joel Henri zum Kirchweihfest einlud, wußte dieser, daß alles dabei war, wieder ins Lot zu kommen, ohne daß Joel sich zum Stand der Dinge äußerte.

Einen Monat später rief Henri eines Morgens seinen Bruder, denn der Leiterwagen war defekt, und Henri brauchte den Schmiedehammer, den er Joel geliehen hatte. Ein Knecht schaute um die Ecke und sagte: "Ihr Bruder ist doch auf Reisen, wußten Sie das nicht?" Er händigte Henri den Hammer aus und ging wieder an die Arbeit.

Wie benommen ging Henri zu seinem Stall und setzte sich auf einen Melkschemel: Auf Reisen, dachte er, wie, auf Reisen? Und er wußte nicht, was er weiter dazu denken sollte.

Als sich Joel Wochen später wieder daheim eingefunden hatte, stellte Henri ihn zur Rede und sagte: "Was ist bloß in dich gefahren, Joel, es war doch abgemacht, und du hattest mir versprochen ..." Papperlapapp, sagte Joel, du hast nichts mehr gesagt von der Reise, und da du sowieso immerzu daheim hockst, dachte ich, es wäre dir ganz recht so. Und außerdem bin ich immer allein gefahren und das gewöhnt. Mach dir nichts draus, vielleicht das nächste Mal." Und mit diesen Worten ließ er den verblüfften Henri stehen. Aus der Ferne rief er noch: "Wenn es nach dir ginge, würden wir beide hier versauern." Sprach's und verschwand im Stall. Und Henri war, als höre er noch ein geflüstertes "Hungerleider wie du".

Henri wußte weiter nichts mehr zu sagen, denn es hatte ihm vollständig die Sprache verschlagen. Er kannte seinen Bruder nicht mehr.

Nun hatte Joel aus der Stadt ein Kalenderbuch mitgebracht mit allerleih erbaulichen Geschichten, Sprüchen und Anekdoten, und da er fand, sein Bruder könne auch mal wieder ein paar Zeilen lesen, ließ er es ihm von einer Magd bringen, denn die beiden Brüder gingen sich seit einiger Zeit aus dem Wege.

Als Henri das Buch Wochen später, denn er hatte viel Arbeit, aber wenig Zeit für Vergnügungen wie das Lesen, ja, beinahe hatte er es schon verlernt – als er das Buch zur Hand nahm und aufschlug, fiel ihm eine dick angestrichene Geschichte von einem Anthony de Mello ins Auge, unter der mit der Handschrift seines Bruders geschrieben stand: "eine gottgefällige Geschichte". Er las:

Zwei Brüder, der eine verheiratet, der andere nicht, besaßen einen Bauernhof, dessen fruchtbarer Boden reichlich Korn hervorbrachte. Die Ernte wurden zwischen den Brüdern geteilt.

Zuerst ging alles gut. Doch auf einmal begann der verheiratete Bruder nachts aufzuschrecken und dachte: "Das ist nicht gerecht. Mein Bruder ist nicht verheiratet, und er bekommt die halbe Ernte. Ich dagegen habe Frau und fünf Kinder, so daß mein Alter gesichert ist. Aber wer wird für meinen armen Bruder sorgen, wenn er alt ist? Er muß viel mehr für die Zukunft sorgen, als er es im Augenblick tut, deshalb ist sein Bedarf bestimmt größer als der meine."

Bei diesen Gedanken stand er auf, schlich sich hinüber zur Behausung seines Bruders und schüttete einen Sack Korn in dessen Scheune.

Auch der Junggeselle begann von diesen nächtlichen Anwandlungen überfallen zu werden. Ab und zu fuhr er aus dem Schlaf hoch und sagte sich: "Das ist einfach nicht gerecht. Mein Bruder hat eine Frau und fünf Kinder, und er bekommt die Hälfte der Ernte. Ich aber muß nur für mich selbst vorsorgen. Ist es also richtig, daß mein Bruder, dessen Bedarf bestimmt größer ist als der meine, genausoviel bekommt wie ich?" Also stand er auf und schüttete einen Sack Korn in die Scheune seines Bruders.

Eines Nachts standen sie gleichzeitig auf und trafen sich, jeder mit einem Sack Korn auf dem Rücken.

Viele Jahre nach ihrem Tod wurde die Geschichte bekannt, und als die Bürger eine Kirche errichten wollten, bauten sie sie dort, wo sich die beiden Brüder getroffen hatten, denn das schien ihnen der heiligste Platz der Stadt zu sein.

Da Joel und Henri keine Nachkommen hatten, fielen ihre Höfe später an den Staat, und als die nahe liegende Stadt wuchs und wuchs, wurde auf dem Nachlaß der Brüder ein Armenfriedhof errichtet.

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