Dienstag, 27. Februar 2007

Blick aus dem Elfenbeinturm




Ab einem gewissen Alter und damit verbundenem Abstand zu den gängigen Innovations- und Freiheitsillusionen ist das scheinbar statische Leben in einem Elfenbeinturm jedem anderen vorzuziehen. Wenn es nur genügend Fenster gibt, aus denen man sehen kann, wie die Erdbewohner überwiegend das tun, was sie seit Urzeiten tun: ein jeder besser zu strampeln versuchen als der andere.

Zu sehen, wie sie lärmend und zänkisch durcheinanderwimmeln und sich gegenseitig von der Qualität der jeweils neuesten Hamsterräder zu überzeugen trachten, und da ihnen dieses meistens nicht gelingt, im Hamsterrad entweder immer neue Hamsterräder ersinnen oder sich beleidigt und verstört in ihre miefigen Schneckenhäuser verziehen. Nachahmenswert scheint mir das alles nicht.

Money is time

Geld wäre Zeit, wenn man es hätte.

Wärmeaustausch

Ein Mensch, der im Übermaß Wärme ausströmt, läuft leicht Gefahr, beim zwischenmenschlichen Energieaustausch zu kurz zu kommen. Wozu ihm geben, was er schon so reichlich zu haben scheint? Wir suchen uns gern die Kühleren, scheinbar Bedürftigen, um ihnen unsere Liebe anzutragen.

Als könnte man mit einem Kühlschrank etwas kochen.

Individuell

Immer wieder dieses scheinbare Gegensatzpaar Individuum – Kollektiv. Als wäre nicht auch jedes Individuum ein Kollektiv. Was uns individuell macht, ist unsere euphorische Identifikation mit der einen oder anderen Facette unseres Wesens.

Herzensbildung

Man kann sich Bücher kaufen, aber keine Bildung. Man kann sich Bildung anlesen, aber keine Herzensbildung. Geld kann darüber hinwegtrösten, daß es an Bildung fehlt, Bildung kann darüber hinwegtrösten, daß es an Geld mangelt. Bei mangelnder Herzensbildung gibt es keinen Trost, weder Geld noch Bildung können über mangelde Herzensbildung hinwegtrösten. Zum Glück aber braucht es bei mangelnder Herzensbildung keinen Trost, denn die meisten bemerken diesen Mangel bei sich selber nicht.

Das Unbehagen angesichts der Campingplätze

Jan schrieb:
Als Kind vor allem, aber auch noch als Jugendlicher fand ich Campingplätze unglaublich hässlich. Ohne dass es mir möglich gewesen wäre, dafür mit einer Erklärung aufzuwarten. Dieses Mobile war's vielleicht, was ich nicht ausstehen konnte, der Auf- und Abbau des Gerätschaftsparks und seiner Objekte in Windeseile, das ständige Kommen und Gehen, das ausschließlich Praktische, auch das so wenig Erdverbundene. Erdverbunden im Sinne, aus der Erde gewachsen, aus Erde bestehend, tellurisch, also Kalk, Zement, Stein, Holz. Wohnwagen und Zelte als artifizielle Gebilde, als Ufos.

Dabei sind die Bewohner der Campingplätze viel näher an der Erde als die meisten anderen, vor allem als die Gäste der Sterne-Hotellerie, die viel Geld für die ästhetisch geschönte Erdferne bezahlen. Der erdentrissene Stein hat doch durch die artifizielle Umwandlung allen tellurischen Charakter verloren, dient nur als Abstandshalter. Das Wesen der Erde steckt nicht so sehr in ihrem materiellen, sondern in ihrem ökologischen Substrat.

Mir machen Campingplätze vor allem deutlich, daß es eine Illusion ist, wenn wir glauben, wir Nomaden könnten in der Erde Wurzeln schlagen, und im Grunde ist die ganze Welt ein großer Campingplatz.

Erdnähe ist da, wo wir die Erde riechen können. Da aber sei Plastik vor. Insofern hast du natürlich recht mit deiner Abneigung. Die Erdnähe auf Campingplätzen ist eine, die sich selbst nicht bemerkt.

Aber ich glaube, was dich am meisten verstimmt an Campingplätzen, ist die Tatsache, daß ihre Existenz dir bewußtmacht, wie provisorisch und zigeunerhaft unser aller Existenz ist.

Tirade 109 – Sterbestatistik

Du bist nicht allein
wenn deine Sekunde kommt
pro Sekunde zwei

der letzte Hauch auf der Welt
die Warteliste ist lang

Dienstag, 20. Februar 2007

Erlöser

Wer möchte nicht gern erlöst werden von Übel und Pein, von seiner als unangemessen empfundenen Umhüllung, wer hält sich nicht wenigstens hin und wieder für einen Prinzen in Froschgestalt?

Bedenkt man jedoch, daß die meisten Erlöser (und Erlöserinnen erst recht) mehr ihr eigenes Wohl im Auge haben als das der nach Erlösung gierenden Froschgemeinde, sollte man sich gut überlegen, ob man nach Erlösung ruft, um sie bittet, fleht, bettelt; denn Frösche landen wie im Märchen bisweilen an der Wand, und zwar ganz ohne die gewünschte und gedachte Metamorphose.

In aller Regel ist ein Erlöser ein Mensch, dem es vor allem darum geht, selbst erlöst zu werden, und sei es von seiner Armut oder dem Gedanken seiner Nichtsnutzig- und Nichtigkeit.

Bücherwurm und Bleilaus

Nun habe ich in meinem Leben an die fünftausend Bücher gelesen, und es war mir nicht vergönnt, auch nur einen einzigen Bücherwurm zu finden.

Normalerweise mögen Würmer gern Salat und andere organische Abfälle, von denen es in Büchern jede Menge gibt: Wortsalat, Buchstabensalat, eine Menge Ausfluß und Gedankenmüll in allen erdenklichen Formen. Ja, auch im sogenannten guten Buch treiben sich neben allerlei Fliegendreck, also falschen Kommata, Hurenkinder herum – und Schusterjungs sowieso. Früher, in Bleiwüstenzeiten, gab es auch noch Zwiebelfische en gros. Allein, Würmer habe ich nicht mal in den Büchern gefunden, die ich in der Pubertät von der damals noch jedermann frei zugänglichen Müllkippe mit nach Hause nahm und die sich nach kurzer Zeit in nichts auflösten, auf unerklärliche Weise einfach verschwanden: Kamasutra und Konsorten.

Mit den mysteriösen Bücherwürmern scheint es sich zu verhalten wie mit den legendären Bleiläusen: Jeder kennt sie oder behauptet, sie zu kennen, und tut so, als hätte er, wenn er nur gesammelt hätte, mittlerweile einen Maltersack voll davon auf dem Speicher stehen. Aber wer sammelt schon Würmer und Läuse?

Neulich sagte jemand zu mir, wenn ich fündig werden wolle bei der Suche nach Bücherwürmern, solle ich mal in den Spiegel schauen. Solch ein Unsinn. Seitdem habe ich jedes Buch, das ich lesen wollte, vor den Spiegel gehalten, aber gesehen habe ich nichts, außer der merkwürdig gestalteten Schrift, die die meisten nicht lesen können. Ich aber schon, denn in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es mein täglich Brot, aus einzelnen Buchstaben Druckvorlagen für Bücher und andere Schriftkonglomerate zusammenzubauen, stets mit wachem Auge wegen der Bleilausgefahr.

Was auch immer die Leute, die sich die Begriffe Bücherwurm und Bleilaus ausgedacht haben, damit bezeichnen wollten: Wie es scheint, sind Bücherwürmer, sollte es sie je gegeben haben, in Zeiten der Dateihygiene mittlerweile ausgestorben – und Bleiläuse sowieso.

Zur chinesischen Astrologie

Gerade las ich in einem Buch zur chinesischen Astrologie über die Persönlichkeit des Drachen: "Er ist harsch, grob und rundheraus rücksichtslos, wenn man ihn provoziert. Versuchen Sie aber lieber nicht, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, denn das wirkt meistens nicht – es sei denn, auch Sie sind ein Drache und bereit zur Schlacht.

Dann können wir alle um die Arena sitzen und ein Brillantfeuerwerk bestaunen, gegen das sich die Silvesterraketen wie Kerzen auf einer Geburtstagstorte ausnehmen."

Aha, dachte ich, ich bin ein Drache, meine Frau ist ein Drache. Jetzt verstehe ich, warum uns noch nie langweilig war miteinander.

Die anderen seien hiermit gewarnt.

Sonntag, 18. Februar 2007

BABEL oder falsche Männlichkeit









BABEL oder falsche Männlichkeit


Der Wahn der Waffen
das Zischen im Luftgemisch
Kugel ist Kugel

eiserne Schmetterlinge
die Botschafter des Todes

Freitag, 16. Februar 2007

Goldspaten

Ein Pessimist ist jemand, der davon ausgeht, daß ein Großteil der Menschen nichts dazulernt, vergißt zu leben und statt dessen damit beschäftigt ist, für einen Spaten aus Gold zu sparen, mit dem sie sich schlußendlich das eigene Grab schaufeln.

Die beiden Brüder

In einem Dorf in Frankreich lebten einmal zwei Brüder, Joel und Henri, die einer wie der andere unverheiratet geblieben waren. Joel war sehr fromm, der andere etwas weniger, aber dennoch verstanden sie sich prächtig, ja, liebten einander und halfen sich gegenseitig in Scheune und Stall. Nun war es so, daß Henri die Äcker mit den schlechteren Böden geerbt und auch nicht immer eine glückliche Hand hatte bei der Bewirtschaftung. Aber im großen und ganzen ging es beiden gut, und sie hatten ihr Auskommen.

Der fromme Joel, der Wohlhabendere der Brüder, konnte es sich leisten, einmal im Jahr für drei Wochen nach Lourdes zur Grotte von Massabielle zu fahren, denn er hatte die Mittel, um die Reisekosten zu bezahlen, und genügend Knechte, die für ihn während seiner Abwesenheit all seine Arbeiten verrichteten. Der andere Bruder aber hatte keine Knechte. So blieb er zu Haus, freute sich für Joel, daß dieser fahren konnte, aber er war schon ein wenig traurig darüber, nicht mit seinem Bruder verreisen zu können. Zwar war ihm das Reiseziel nicht so wichtig wie dem frommen Bruder, aber er würde es sicherlich genießen, einmal im Jahr mit Joel über etwas anderes zu reden als über Wetter und Fruchtstände, über Fleisch- und Getreidepreise.

Damit sein Verzicht ihn nicht allzusehr anging, tröstete sich der Daheimgebliebene Jahr für Jahr mit dem Gedanken, daß Reisen gefährlich und er überdies eher seßsafter sei als sein Bruder. Und so fiel ihm der Verzicht leichter, und fast glaubte er daran, daß er gar nicht so sehr gern reise. Auch war er immer ein wenig in Sorge um den andern, wenn dieser unterwegs war. Man hörte so einiges.

Die beiden Brüder sprachen nicht viel darüber, und so ging das einige Jahre.

Nun hatte der Benachteiligte der beiden wider Erwarten eine besonders gute Ernte eingefahren, und auch die Getreidepreise waren höher als erwartet. So konnte er hoffen, im nächsten Jahr werde es doch einmal reichen für die Wallfahrt. Er teilte seinem Bruder mit, wie es stehe und er bereit und in der Lage sei, im nächsten Frühsommer zu reisen, obgleich es etwas knapp werde wegen der notwendigen Aufwendungen für die Aushilfsknechte, aber er sei guter Dinge, das zu schaffen. Er sagte das mit vor Vergnügen blitzenden Augen.

Da freute sich auch der andere: "Dann ist es also abgemacht: Das nächste Mal fahren wir gemeinsam, Bruderherz", sagte Joel freudestrahlend und umarmte seinen Bruder kräftig, was im Gegensatz zu Henri sonst gar nicht in seiner Art lag.


In diesem Jahr gab es einen milden Winter, und zu Weihnachten zeigte sich der Fromme von seiner spendablen Seite und lud seinen Bruder zum Weihnachtsmarkt ins nächste Städtchen ein. Solch ein frohes Gezeche hatte es schon lange nicht mehr gegeben.

Nach Neujahr dann das Unglück: Dem Reicheren der beiden brannte die Scheune ab, und er und seine Knechte hatten Tag und Nacht alle Hände voll zu tun. Die Versicherung sträubte sich nach Kräften, und fürs erste sah der Bauer keinen Franc. Der Bruder aber konnte nicht helfen, so gern er es auch getan hätte, hatte er doch mit seinem eigenen genug zu tun und schaffte kaum sein Tagwerk.

"Mit der gemeinsamen Reise wird es dieses Jahr wohl nichts werden", sagte der eine, und der andere nickte nur zustimmend. "Aber im nächsten Jahr bestimmt, das versprech ich dir", sagte Joel und machte sich wieder an seine Arbeit, denn er hatte wirklich über die Maßen viel zu tun. Obgleich Henri von Joel in der Folge immer wieder hörte "Keine Zeit, keine Zeit" und sah, wie erschöpft dieser war, konnte doch nicht übersehen werden, daß die Dinge sich langsam entspannten. Dennoch ließ Henri seinen Bruder in Ruhe und sprach nicht mehr von der gemeinsamen Reise. Joel würde sich schon melden, wenn er bereit dafür war. So vergingen Tage und Monate, und als Joel Henri zum Kirchweihfest einlud, wußte dieser, daß alles dabei war, wieder ins Lot zu kommen, ohne daß Joel sich zum Stand der Dinge äußerte.

Einen Monat später rief Henri eines Morgens seinen Bruder, denn der Leiterwagen war defekt, und Henri brauchte den Schmiedehammer, den er Joel geliehen hatte. Ein Knecht schaute um die Ecke und sagte: "Ihr Bruder ist doch auf Reisen, wußten Sie das nicht?" Er händigte Henri den Hammer aus und ging wieder an die Arbeit.

Wie benommen ging Henri zu seinem Stall und setzte sich auf einen Melkschemel: Auf Reisen, dachte er, wie, auf Reisen? Und er wußte nicht, was er weiter dazu denken sollte.

Als sich Joel Wochen später wieder daheim eingefunden hatte, stellte Henri ihn zur Rede und sagte: "Was ist bloß in dich gefahren, Joel, es war doch abgemacht, und du hattest mir versprochen ..." Papperlapapp, sagte Joel, du hast nichts mehr gesagt von der Reise, und da du sowieso immerzu daheim hockst, dachte ich, es wäre dir ganz recht so. Und außerdem bin ich immer allein gefahren und das gewöhnt. Mach dir nichts draus, vielleicht das nächste Mal." Und mit diesen Worten ließ er den verblüfften Henri stehen. Aus der Ferne rief er noch: "Wenn es nach dir ginge, würden wir beide hier versauern." Sprach's und verschwand im Stall. Und Henri war, als höre er noch ein geflüstertes "Hungerleider wie du".

Henri wußte weiter nichts mehr zu sagen, denn es hatte ihm vollständig die Sprache verschlagen. Er kannte seinen Bruder nicht mehr.

Nun hatte Joel aus der Stadt ein Kalenderbuch mitgebracht mit allerleih erbaulichen Geschichten, Sprüchen und Anekdoten, und da er fand, sein Bruder könne auch mal wieder ein paar Zeilen lesen, ließ er es ihm von einer Magd bringen, denn die beiden Brüder gingen sich seit einiger Zeit aus dem Wege.

Als Henri das Buch Wochen später, denn er hatte viel Arbeit, aber wenig Zeit für Vergnügungen wie das Lesen, ja, beinahe hatte er es schon verlernt – als er das Buch zur Hand nahm und aufschlug, fiel ihm eine dick angestrichene Geschichte von einem Anthony de Mello ins Auge, unter der mit der Handschrift seines Bruders geschrieben stand: "eine gottgefällige Geschichte". Er las:

Zwei Brüder, der eine verheiratet, der andere nicht, besaßen einen Bauernhof, dessen fruchtbarer Boden reichlich Korn hervorbrachte. Die Ernte wurden zwischen den Brüdern geteilt.

Zuerst ging alles gut. Doch auf einmal begann der verheiratete Bruder nachts aufzuschrecken und dachte: "Das ist nicht gerecht. Mein Bruder ist nicht verheiratet, und er bekommt die halbe Ernte. Ich dagegen habe Frau und fünf Kinder, so daß mein Alter gesichert ist. Aber wer wird für meinen armen Bruder sorgen, wenn er alt ist? Er muß viel mehr für die Zukunft sorgen, als er es im Augenblick tut, deshalb ist sein Bedarf bestimmt größer als der meine."

Bei diesen Gedanken stand er auf, schlich sich hinüber zur Behausung seines Bruders und schüttete einen Sack Korn in dessen Scheune.

Auch der Junggeselle begann von diesen nächtlichen Anwandlungen überfallen zu werden. Ab und zu fuhr er aus dem Schlaf hoch und sagte sich: "Das ist einfach nicht gerecht. Mein Bruder hat eine Frau und fünf Kinder, und er bekommt die Hälfte der Ernte. Ich aber muß nur für mich selbst vorsorgen. Ist es also richtig, daß mein Bruder, dessen Bedarf bestimmt größer ist als der meine, genausoviel bekommt wie ich?" Also stand er auf und schüttete einen Sack Korn in die Scheune seines Bruders.

Eines Nachts standen sie gleichzeitig auf und trafen sich, jeder mit einem Sack Korn auf dem Rücken.

Viele Jahre nach ihrem Tod wurde die Geschichte bekannt, und als die Bürger eine Kirche errichten wollten, bauten sie sie dort, wo sich die beiden Brüder getroffen hatten, denn das schien ihnen der heiligste Platz der Stadt zu sein.

Da Joel und Henri keine Nachkommen hatten, fielen ihre Höfe später an den Staat, und als die nahe liegende Stadt wuchs und wuchs, wurde auf dem Nachlaß der Brüder ein Armenfriedhof errichtet.

Kommunikationskunst

Mich erstaunt immer wieder, daß so manches Gespräch zwischen Mann und Frau tatsächlich – wenn auch auf den ersten Blick nicht so deutlich erkennbar – ähnlich abläuft wie Gespräche bei Loriot. Wie es aussieht, scheinen also die meisten diese Wunderwerke der Kommunikationskunst zu kennen und mit Freude nachzuahmen.

Oder ist es vielleicht doch eher so, daß Loriot nur gut beobachtet hat?

Ich sitze hier

Gut versteckt

Das Unglück mit
dem Menschen ist
daß das Gute in ihm
noch besser versteckt
ist als das Schlechte.
Und wenn beide sich treffen
was schon mal vorkommt
reden sie kein Wort
miteinander so als
hätte keiner
mit dem andern
was zu tun.

Donnerstag, 15. Februar 2007

Erdmann – Szenische Monodialoge 4

ERDMANN verknittert, verläßt das Schlafzimmer, geht zum PC und startet ihn, dann begibt er sich ins Bad.

Ich sehe gar nicht so
alt aus wie ich bin
auf dem Papier.
O Gott, nur gut
daß ich weiß daß
mein Kind
meines ist
und der Briefträger
nicht blöde grinst
wenn er mich sieht
sonst sähe ich alt aus
und wäre nur
bedauernswerter Zahlvater
wie so viele.
Ist das nicht
ungeheuerlich:
Demnächst soll
einer der ahnt
oder sogar weiß
daß ihm lächelnd ein
Kuckucksei ins Nest
gelegt wurde
und das bewiesen hat
per Gentest
ohne Zustimmung
der Kuckuckin
versteht sich –
die wäre ja auch
schön blöd wenn
sie zustimmte
daß etwas geklärt wird
was sie bereits weiß –
also der soll ins Gefängnis
nicht etwa die
betrügerische Kuckuckin.
Nennt sich Recht
oder gar Männerrecht
wie Feministinnen
sagen würden.
Informationelle
Selbstbestimmung
ist das Zauberwort
und der Kuckuckin
ist es verbrieft
stellvertretend für
ihre Leibesfrucht
die von nichts ahnt
als hätte ein Kind nicht auch ein
höherwertigeres Recht
das Recht auf Kenntnis
seiner wirklichen Abstammung.
Das ist schon eine Zauberjustiz
die so was aus
dem Zylinder holt.
Versteht man natürlich
denn ist ein Zahlvater da
muß nicht der Staat
aufkommen für
die Kinder fremdfickender
Ehe-Bürgerinnen.
Moralischer Offenbarungseid
nicht im Sinne der Sexualmoral
mein Gott da soll doch
jeder machen was er will
aber ist da nicht die
viel elementarere Frage
von Mein und Dein?
Wir haben ein traditionell
schwachsinniges Vaterschaftsrecht
als wären wir
beim Schiffsunglück
auf hoher See:
Frauen und Kinder zuerst.
Wobei auch die Kinder letztlich
aus dem Rettungsboot
gestoßen werden.
Sie sollen nicht erfahren
wer ihr Vater ist
sie kennen ihre Mutter
das soll wohl reichen.
Überhaupt kommt es nicht
auf biologische Richtigkeit
der Vaterschaft an.
Sagte ein Oberlandesgericht
im Jahr zweitausend
vor, nein nach Christus.
Na dann.
Sachen gibt's.

Verläßt das Bad, hört ein Summen
Diese blöde Kiste.
Hat sich beim Runterfahren
gestern abend wieder aufgehängt
die ganze Nacht gelaufen
bei den Strompreisen
oder hab ich Trottel im Vorschlaf
nur wieder vergessen
das Ding auszuschalten?
Setzt sich kopfschüttelnd
an seinen Arbeitsplatz.

Vom Wichtignehmen

Manchmal kommt es vor, daß wir einen anderen Menschen, sei es aus Liebe, sei es aus Respekt, sehr wichtig nehmen. Stellen wir im Laufe der Zeit jedoch fest, daß wir für den anderen, trotz gegenteiliger Beteuerungen, nicht so wichtig sind wie er für uns, dann sind wir gut beraten, ihn etwas weniger wichtig zu nehmen und uns selber etwas wichtiger.

Einfach nicht so einfach

Unser Leben ist vor allem deshalb nicht einfach, weil wir glauben, es könnte einfach sein. Wenn wir begreifen, daß es so ist, wie es ist, und nicht mehr wähnen, es könnte einfacher sein, als es ist, dann sind wir schon einen Schritt weiter.

Enttäuschungen

Keinem Menschen bleiben Enttäuschungen durch andere erspart, und die meisten dieser Enttäuschungen sind nicht Folge von Bosheit oder Gleichgültigkeit unserer Mitmenschen, sondern haben ihren Grund in unseren eigenen Fehleinschätzungen.

Ist es so, daß sich dieselben Enttäuschungen ständig wiederholen, dann liegt das meist daran, daß wir uns für wichtiger halten, als wir tatsächlich sind, oder die Lernfähigkeit der anderen überschätzen.

Oder beides.

Glaube und Wissen

Das gerade macht das Zusammenleben der Menschen so schwierig: daß so viele zu wissen meinen, daß ihr Glaube Wissen sei.

Mittwoch, 14. Februar 2007

Körpergefühl

Ausgezeichnete Therapie zur Korrektur eines fehlerhaften, nur gedachten Körpergefühls: eine Runde Tennis oder Badminton. Hinterher weißt du: Die Arme sind kürzer, als du dachtest, und die Beine schwerer.

Und schmerzlich wird dir bewußt: So mancher Muskel kann äußerst ungehalten werden, wenn du ihn plötzlich und unerwartet in seinem Dauerschlaf störst.

Gewohnheiten

Wir tun vieles, ohne darüber nachzudenken, warum wir es tun. Wenn aber jemand kommt und fragt, warum tust du das?, finden wir häufig keine Erklärung für das, was wir tun. Doch wollen wir nicht wahrhaben, daß der Grund unseres Tuns allein in der Gewohnheit liegt. Wir schämen uns ein wenig. Also setzen wir uns hin und basteln uns eine Erklärung für unser Tun. Es muß sich doch irgendein Grund finden lassen ... Notfalls müssen wir einen erfinden. Denn nichts lieben wir so sehr wie unsere Gewohnheiten – und kaum etwas ist uns wichtiger als unsere Überzeugung, daß unsere Gewohnheiten mehr sind als nur Gewohnheiten.

Die Katze

Textem

Textem

Dienstag, 13. Februar 2007

Der hilfreiche Helfer

Wenn wir uns in einen anderen hineinzufühlen versuchen, besteht immer die Gefahr, daß wir unsere Gefühle in ihn hineinprojizieren und sie als seine ausgeben. Damit haben wir ihm aber in keiner Weise geholfen, sondern ganz im Gegenteil: Wir haben ihn seiner Selbstbestimmung beraubt.

Wir wissen nun besser, was er braucht, als er selbst, und überschwemmen ihn mit unserer Hilfsbereitschaft, denn wir haben ja verstanden, wie es dem anderen geht, und wenn er nur unsere Angebote annehmen würde, dann ginge es ihm bald sehr viel besser.

Und so ganz nebenbei könnten wir uns dann auch noch den Lorbeerkranz des hilfreichen Helfers aufsetzen und strahlend vor das Publikum treten.

Wie schön.

Erdmann – Szenische Monodialoge 3

ERDMANN verknittert, verläßt das

Schlafzimmer, geht zum PC und

startet ihn, dann begibt er

sich ins Bad.

Ich könnte mich mal wieder rasieren
ist schon wieder ein Dreitagebart
nach zwei Tagen. Wächst schneller
als die Zeit erlaubt. Auch eine Art
von Kriminalität.
Endogene. Bartwuchs als
endogene Kriminalität.
Früher hatten alle Räuber
einen Bart. Heute sind
alle Räuber, sollte
man meinen.
Da hat doch einer
nach einem Unfall
als da son armes Würstchen
auf der Straße lag
sogar angehalten.
Die meisten fahren ja vorbei
wenn’s keiner sieht.
Also, der hat angehalten
voller Mitgefühl und
Hilfsbereitschaft.
Stabile Seitenlage.
Und eins eins null
Handy ist schon Klasse.
Dann war er aber weg
bescheiden wie er war
Wollte nicht belobigt werden
für seine Samaritertat.
Das Geld des Verunglückten
war natürlich auch weg
gewissermaßen Spesen
für Zeitaufwand und so.
Die stabile Seitenlage
hat ihren Sinn
man kommt besser
ans Portemonnaie.

Verläßt das Bad, hört ein Summen
Diese blöde Kiste.
Hat sich beim Runterfahren
gestern abend wieder aufgehängt
die ganze Nacht gelaufen
bei den Strompreisen
oder hab ich Trottel im Vorschlaf
nur wieder vergessen
das Ding auszuschalten?
Setzt sich kopfschüttelnd
an seinen Arbeitsplatz.

Montag, 12. Februar 2007

Fratzen schneiden

Allem Lebendigen haftet der Geruch des Todes an. Und wenn man genau hinschaut, sieht man den Tod in jedem Gesicht verschmitzt und wissend lächeln. Auch beim Blick in den Spiegel. Man muß ihm Fratzen schneiden.

Reibung

Auch für die Beziehung zwischen Mann und Frau gilt: Auf Dauer gibt es für beide keine Wärme ohne Reibung.

Verletzungen und Persönlichkeit
















Gerade die Art und Weise, wie wir mit unseren Verletzungen umgehen, seien es die in der Kindheit oder die alltäglichen, macht uns zu unverwechselbaren Persönlichkeiten. Niemand, der nicht wirklich gelitten hat, kann eine unverwechselbare Persönlichkeit entwickeln. Aber mancher zerbricht an der Aufgabe, sich selbst zu heilen.

Thomas Manns Betrachtungen betrachtet

Beinahe unerträglich für heutige Leser ist der revolutionär sein wollende betuliche Konservativismus Thomas Manns in den "Betrachtungen eines Unpolitischen", der so bieder daherkommt mit der narzißtisch überhöhten Mannschen Überbetonung der eigenen Rolle als pantheonisch-überkünstlerischer Zivilisationsliteraturkritiker und seiner gutbesattelten pathetischen Herumreiterei auf dem Pferd des wahren, faltenerzeugenden Künstlertums. Und der dabei den Autor doch sichtbar immer wieder hinter der (damals wohl noch vorgestellten) Lesebrille aufschauen läßt, als wolle er fragen: Bin ich nicht ein Überkünstler, auch wenn ich wie ein Überbürger ausschaue? Seht ihr, wie spritzig ich bin?

Ehe und Prostitution

Immanuel Kant sagte: "Die Ehe ist ein Rechtsbündnis zum wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane."

Und ist es nicht tatsächlich so? Ist nicht eine gelungene Ehe oder eheähnliche Dauerbeziehung zwischen gleichberechtigten Partnern eine Art wechselseitige Prostitution? Nicht nur im Bereich der Sexualität, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Geben und Nehmen.

Wenn dieses Verhältnis auf Liebe gründet, ist es um so schöner.

Über Empathie

Wenn wir verliebt sind oder wenn uns ein andrer leid tut, dann versuchen wir, wenn wir es können und wenn wir nette Menschen sind, uns in ihn einzufühlen.

Aber so traurig das auch klingt: Wir können niemals die Perspektive des andern einnehmen, sosehr wir uns auch mit Verständnis und Toleranz einzufühlen versuchen.

Was wie einnehmen können, ist immer nur die Perspektive, von der wir glauben, daß sie die des andern sei – und immer schleppen wir unsere Irrtümer mit hinein. Ja, es ist sogar eine Art Anmaßung dabei, wenn wir dem andern sagen: Ich verstehe dich. Ist es nicht so, daß wir dem andern unsere Version von seiner Perspektive überzustülpen versuchen und damit seine eigene in Frage stellen?

Einer, der nicht todkrank ist und es nie war, wie sollte der die Perspektive eines Todkranken einnehmen können? Einer, der nicht verliebt ist und es nie war, wie sollte der ...

Fortschritt

Die Menschheit besteht zum größten Teil aus parfümierten Barbaren, die ein bißchen Zivilisation spielen.

Trunkenheit im Wortverkehr

Wenn einer betrunken ist von Ideologemenbowle oder Moralinpunsch, ist er, nüchtern betrachtet, rauscheuphorisiert und nicht zur sachlichen Betrachtung und Beschreibung der Dinge und noch viel weniger seines eigenen Zustandes bereit und in der Lage. So geht es den meisten von uns, wenn wir unsere in ideologisch gedüngtem Boden gewachsenen Vorurteile in Diskussionen oder Debatten hätscheln oder hätscheln lassen.

Die meisten Diskussionen sind Gewächshaustratsch.

So sind die Menschen

Den eignen
dicken Zeh
zehn Sekunden
im Wasser
schon muß ein
Schild her:
SCHWIMMSCHULE

Tirade 107 – Das Bild in der Hauerei










Tirade 107 – Das Bild in der Hauerei

Das Glied der Glieder
als wäre es entschlafen
straff nur Hermanns Schwert

unfruchtbar abgehangen
aus Schwertern tropft kein Samen

Kleine Waffenkunde

Je größer der Säbel, um so kleiner das Schwert.

Film

Der Film ist ein Versuch, statische Ideen vergangener Augenblicke, real gewesen oder nur gedacht, zu dynamisieren, und damit notwendigerweise anachronistisch. Weil aber diese Dynamik in die Gegenwart einbricht, von ihr aufgesaugt wird, sind Filme so etwas wie Preßluft-Tauchsieder, die den zu Geröll gefrorenen Matsch der Vergangenheit für unsere Sinne wiederbeleben und damit neu erschließen, so daß es zu innerolfaktorischen Déjà-vu-Erlebnissen kommen kann.

Schlichtmoderne

Ein privater Museumsgründer sprach sich im Radio gegen "prätentiöse wolkige Architektur" aus und sagte, er finde eine Containerbox-Lösung viel "charmanter". Ich weiß nicht, was ich von einem Ästheten halten soll, der glaubt, charmant sei das richtige Wort für Containerstil.

Ähnliches hatte ich letztes Jahr bei einer Architekturdebatte mal in der "taz" gelesen. Da wurde eine solche Architektur als "elegant" bezeichnet.

Wie es scheint, sind wir jetzt nach der Postmoderne wieder in der Schlichtmoderne angekommen. Oder ist solches nur Ausdruck einer neuen Lust am Provisorischen?

Konstanten der Wahrnehmung


Wir erfahren die Welt nicht nur gemäß unseren Erfahrungen und Glaubenssätzen, sondern vor allem und in erster Linie gemäß unseren angeborenen Wahrnehmungskonstanten.

Raum und Zeit sind nicht real im materiellen Sinn, sondern Ausdruck unserer apriorischen Bewußtseinsstrukturen. Niemand hat in dieser Hinsicht eine Wahl.

Wählen können wir lediglich bei der Bewertung des Ganzen: Unsere Erfahrungen, Religion und Philosophie sind Folge unserer Sinneseindrücke und gedanklichen Ableitungen, nicht etwa umgekehrt. Sosehr wir uns das auch wünschen mögen.

Was wir ändern können, sind lediglich Bewußtseinszustände, Fokussierungen und Perspektiven. Die Grundmuster unserer Wahrnehmung, das eigentliche Bewußtsein können wir nicht ändern, es ist gewissermaßen ins Sein eingewachsen.

All unser Denken und Handeln ist Ausdruck unserer Sinneswahrnehmung, und wir können uns mit Hilfe der Phantasie unendlich viel zurechtmachen, aber eine Welt jenseits von Zeit und Raum können wir uns nicht vorstellen. Und dabei sind Zeit und Raum nichts anderes als unsere angeborene Vorstellung von der Realität. Sie kommen nicht den Dingen selbst zu.

Was wirklich "ist", können wir nicht wahrnehmen, wir bleiben immer im Netz unserer selbstgeschaffenen Vorstellungen, Erscheinungen hängen. Bestenfalls können wir spekulieren, welche böse Spinne dieses Netz gewebt hat und ob und, wenn ja, warum sie uns darin fangen will.

Bild

Vogel zeigen


Einen Vogel sollte man nur jemandem zeigen, der einen hat, ihn jedoch selbst nicht sieht, weil das Tierchen hinter den Augenhöhlen nistet.

Jeder mit halbwegs empfindlicher Nase ausgestattete externe Beobachter riecht jedoch die bei der Nestpflege ausgeworfenen Exkremente und weiß Bescheid, während der Betroffene den Geruch nicht wahrnimmt, weil er ihm so vertraut ist.

Bevor wir die Hand zum Kopf (sicherheitshalber dem eigenen) führen, um den Beobachteten von seinem blinden Passagier in Kenntnis zu setzen, sollten wir uns allerdings vergewissern, daß der Vogel kein großer Raubvogel ist - ansonsten aber auch auf keinen Fall kleiner als unser eigener.

Zoologisch-anthropologische Meditation


Aus der Sicht roher Gemüter ist die Kuh eine Molkerei mit kleinem Hirn und großem Schwanz. Der Ochse ist ein großer Schwanz mit kleinem Hirn, aber ohne Molkerei. Eine dumme Kuh wiederum ist eine Molkerei ohne Hirn und ohne Schwanz. Ein blöder Ochse ist hirngeschädigt, denkt, er wäre ein Bulle, und um das zu beweisen, steigt er auf jede dumme Kuh.

Zur Sprache bringen


Immer wieder erstaunlich, was die Leute so alles zur Sprache bringen. Die arme Sprache, wie wird sie zugemüllt. Wenn einer nicht mehr weiterweiß mit seinem Kram, im eigenen Morast zu ersticken droht, dann bringt er alles zur Sprache. Wohin auch sonst?

Bisweilen, wenn ich die Sprache ächzend und schnaubend daherkommen sehe, denke ich, manche Dinge sollte man besser zur Mülltonne bringen – statt zur Sprache.

Tirade 108 – Sitzsprung


Ist Zeit für den Sprung
bald wirst du kräftig springen
im Sitzen gedacht

gestern dachtest du morgen
und heute denkst du gestern